Industrial Black Metal? Technical Black Metal? Nein, nicht wirklich. Aber diesmal geht es gar nicht in erster Linie um die Schublade. Die Geschichte hinter der Band und diesem Album ist wichtiger als die reine Genre-Zuordnung. Es ist eine Geschichte über menschliche Ausdauer, den Willen, die eigenen Grenzen zu überwinden. Eine Geschichte über Leidenschaft und darüber, wie weit sie einen tragen kann, wenn man sie zum Motor seines Lebens macht. „Visions of Utopia“ ist das zweite Album von ELECTROMANCY.
Das Album zeigt Stephs Songwriting und Programmierkunst
Metal, von einem Menschen komponiert – gespielt von physischen Robotern. 2018 wurde Steph (they/them) durch Lyme-Borreliose chronisch krank und behindert, erlitten Nervenschäden, die das Spielen von Instrumenten extrem schmerzhaft machten. Anstatt die Musik aufzugeben, bauten they DIY-Roboter, die für them die Instrumente spielen – um weiterhin Metal erschaffen zu können. Das Ergebnis: ELECTROMANCY, die Robot-Metal-Band.
Das Intro ist eine gesprochene Einführung in Stephs Geschichte. Danach klingt „Utopic Visions“ tatsächlich mehr nach Industrial Black Metal. Wie man sich denken kann, sind die Riffs nicht übermäßig komplex, eher einfache Gitarrenläufe, repetitive Passagen, dazu ein insgesamt recht langsames Tempo. Durch Tempowechsel und neue Akkorde gewinnt die Musik dennoch an Tiefe. Der Gesang reicht von harschen Schreien bis zu infernalischem Flüstern. Der Gesamteindruck ist eine verzerrte, kantige Klangwelt mit klaren Black-Metal-Anleihen.
Für die Vocals verantwortlich ist neben Steph (früher bekannt als Satyra, bürgerlich Stephen Thomas Tranovich) auch Shaun Gallagher (Execrate, Pervertor). Steph übernahm zudem Songwriting, Texte, das komplette Roboter-Programming und Teile des Gesangs. Auch wenn ELECTROMANCY ein reines Soloprojekt ist, sorgt die Zusammenarbeit für mehr klangliche Vielfalt, ein klareres Gesamtbild und eine größere Reichweite.
Ein Mix aus Chaos und Sampling
„Brief Moments Of Total Collapse“ wirkt chaotisch, fast wie experimentelle Sample-Musik – ein kurzes Interlude. „Nonlinear Healing“ hingegen bewegt sich stärker im Black-Metal-Spektrum. Trotz des dominierenden Chaos hat der Song eine gute rhythmische Basis, wirkt geordneter und gewinnt durch die doppelten Vocals eine dichte, düstere Atmosphäre. Die wiederholten Stimmen brennen sich ein und vermitteln die ganze Schwere einer Krankheit und gleichzeitig die Ambivalenz des Heilungsprozesses. Musikalisch interessant, stellenweise sogar beeindruckend – ein Highlight.
Die Produktion ist ziemlich roh, trägt aber einen Sinn für Authentizität in sich. Man hätte die Songs wohl ohne Mühe klarer abmischen können, doch gerade die ungeschliffenen Gitarren, die verzerrten Vocals und bewusst kratzige Samples verleihen dem Album seinen bizarren, geisterhaften Charakter.
„Repair“ überrascht mit einer eingängigen Melodielinie – ohne den Hintergrund der Entstehungsgeschichte würde man den Song völlig anders einordnen. „Thriving Cyborg“ bewegt sich eher im elektronischen Bereich, durchzogen von Schreien, aber auch hier finden sich starke Passagen, gut aufgebaut und spannend umgesetzt. „Static Ecstatic“ schließlich ist ein Instrumentalstück: obsessive, sich wiederholende Akkorde, dicht und geschlossen, zugleich aggressiver als alles zuvor – ein kraftvoller Abschluss.
Ein starkes Manifest mit spannenden Momenten
Manche Stücke sind extrem kurz, andere sehr lang. Reverb und Sampling durchziehen das ganze Album. Jede Komposition weckt ein seltsames Gefühl: mal will man das Stück instinktiv wegdrücken, dann wieder ist da Respekt und Anerkennung – und letztlich überwiegt klar Letzteres. Live wird das Projekt noch eindrucksvoller: Stephs „Bandkollegen“ sind Mannequins mit herausgeschnittenen Gesichtern, deren Körper mit LEDs gefüllt sind, die zur Musik synchronisiert aufleuchten – ein bizarr faszinierendes Bühnenbild.
Musikalisch ist das Ganze schwer zu verorten. Vielleicht am ehesten „Industrial Black Metal“, vielleicht „elektronischer Black Metal“. Sicher ist nur: dass hier Roboter die Instrumente spielen, macht die Bezeichnung noch absurder und spannender zugleich. Allein die technische Leistung, die Maschinen so zu programmieren und zum Klingen zu bringen, ist bemerkenswert. Lyrisch verarbeitet Steph they Erfahrungen, die Krankheit, den Kampf, die Genesung – und verwebt all das zu einem Gesamtbild, das viel größer ist als die Musik allein.
Rein musikalisch betrachtet gibt es auf „Visions of Utopia“ interessante und starke Passagen, auch wenn das Album kein Meilenstein des Genres ist. Doch was es als Ganzes verkörpert, macht es zu einem außergewöhnlichen Statement.
Fazit: ELECTROMANCYs Visions of Utopia ist weniger Genre-Meisterwerk als Manifest: einzigartig, leidenschaftlich und Zeugnis von Stephs Kampfgeist.
Tracklist
01. Intro
02. Utopic Visions
03. Brief Moments Of Total Collapse
04. Nonlinear Healing
05. Repair
06. Thriving Cyborg
07. Static Ecstatic
Besetzung
Steph Tranovich: Robotics, Compositions, Lyrics, Vocals
Shaun Gallagher: Vocals

